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ARNOLD

AUSSTELLUNG
Ausstellung zum 85. Geburtstag von Ingo Arnold
...zum Bleistift . Ingo Arnold
Galerie im Kulturhaus Karlshorst

Vernissage                                  ......
Ausstellungszeitraum ist vom   ......
Finissage                          
Birke
... zum Bleistift ... greift Ingo Arnold nicht wegen einer Notiz. Von ihm fotografisch fixierte Motive werden in seinen Zeichnungen zu einer poetischen Metapher. Holz, Stein, Metall, Wasser, selbst Licht, Luft, Perspektive - alles bekommt die Aura der Erstmaligkeit unseres Sehens – Graphitbilder.
Knut Becker . Kurator der Ausstellung

Die Laudatio hielt Sebastian Kleinschmidt. Lesen Sie bitte ... wunderbare Worte zu großartigen Bildern.

VOR UND HINTER DEN DINGEN
Bleistiftzeichnungen von Ingo Arnold im Kulturhaus Karlshort


Ich habe in meinem Leben schon viele Ausstellungen von Ingo Arnold gesehen, doch keine war so stimmig, stilistisch so homogen, motivisch so überzeugend und als Ganzes so wunderbar komponiert wie diese hier im Kulturhaus Karlshorst. Das liegt zum einen natürlich am Kurator Knut Becker, zum anderen aber auch an dem offnen Raum und den unverwinkelten Wänden, so dass man alles auf einen Blick erfassen kann. Und was uns da vor Augen liegt, diese schöne monochrome Elegie - ein Meer aus feinsten Grautönen, aus hellem und dunklem Graphit -, macht sprachlos vor Staunen. Doch den Luxus der Sprachlosigkeit kann ich mir nicht leisten, ich bin der Redner und habe zu reden. Am Ende zu reden auch über die Stille, die physische und die metaphysische Stille, die aus all diesen Bildern spricht. 
    Es ist eine Stille, die daher rührt, dass fast alles, was wir sehen, Kisten, Schränke, Hebel, Türen, Tore, aus dem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen ist. Die lebendige Funktion ist erloschen, die Fabriken, zu denen diese Dinge gehörten, haben zugemacht, die Arbeiter, die einst damit hantierten, sind entlassen. Doch bis auf die Maschinen, die demontiert wurden, ist alles an seinem Platz geblieben, verlassen und dennoch treu, treu und dennoch verlassen, wie auf einem untergegangenen Schiff.
    Am großartigsten zeigt sich das an dem Ballett der Fensterhebel, den dreimal fünf neben- bzw. übereinander gehängten Hochformaten auf der Stirnseite. Das ist weit mehr als nur sichtbar gemachte Lüftungsmechanik. Und mehr auch als nur das Sukzessive einer Serie, das Narrative einer Bilderfolge. Das ist wie ein Wurf aus fünfzehn Händen. Ein rhythmisches Wunderwerk, ein Tanz der Gleichzeitigkeit. Als flöge eine Schar Handgriffe auf wie ein Vogelschwarm. Als verwandelten sich Metallstäbe in Taktstöcke. Stumme Musik der Geometrie. Ein bizarrer Choral der Erlösung. Ein kollektiver Akt von Loslassung. Und kein neues Festhalten in Sicht. O dass man aus hinfälligem Gestänge, traurigen Ösen, ausgedientem Drahtseil, rissigem Putz einen solchen Zauber wirken kann! Wie heißt es doch bei Eichendorff so schön?

Schläft ein Lied in allen Dingen
die da träumen fort und fort,
und die Welt fängt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.

Der Zeichner Ingo Arnold hat das Zauberwort getroffen - mit nichts als einem Bleistift und der Langmut seiner rechten Hand. Als er 1994 die leeren Hallen im Transformatorenwerk Oberspree mit der Kamera durchstreifte, hat er den verborgenen Sinn des toten Inventars geahnt. Und in der zwanzig Jahre danach in Angriff genommenen zeichnerischen Übertragung lebendig zutage gebracht.

Sämtlichen Graphitbildern, wie sie hier ausgestellt sind, liegen Schwarz-Weiß Fotografien zugrunde. Ein jedes Motiv - ob Granitkugel, Schneespur, Bretterverschlag oder Scheinwerfer – ist der Realität entnommen. Gegenstand und Perspektive hat der Künstler in Hinblick auf die spätere Zeichnung gewählt und als Foto fixiert. Was anderen der Skizzenblock, ist ihm die Kamera. Die eigentliche Arbeit besteht in der Transformation der etwa 20 x 15 cm kleinen Fotografien in die überwiegend 100 x 70 cm großen Zeichnungen. Das ist sehr aufwendig. Da ist zum einen die minutiöse Übertragung von Fläche und Raum, von Punkten, Flecken und Linien, geraden, eckigen und gekrümmten, von Kontur, Struktur und Schattierung. Das ist kein Faksimile, keine eins zu eins Kopie, sondern eine kunstgerechte Übersetzung, die nichts hinzufügt, aber vieles weglässt, die vergrößert, abstrahiert und verdichtet. Alles geschieht von Hand. Benutzt werden Fallstifte verschiedener Härte- und Helligkeitsstufen. Über das Foto wird ein Raster, ein Netz von Quadraten, gezogen, und analog über den weißen Zeichenkarton, nur in anderer Größe. Die beiden Gitter erlauben es, das fotografische Bild, Quadrat für Quadrat, in den Raster des neuen Formats zu übertragen.
Was sich durch die Übertragung ändert, sind der Sinn und die Stimmung der Bilder. In die Zeichnungen geht etwas ein, was in den Fotografien nicht war und nicht ist, nämlich Zeit, handwerklich verausgabte, psychisch erlebte, philosophisch reflektierte Zeit. Als würden die Zeichnungen das Geheimnis der Vergänglichkeit signieren. Lebenszeit, Erfahrungszeit, böse Zeit und gute Zeit verwandeln sich in Fläche, Raum und Fluidum, in einen beseelten Widerschein der Dinge. Das dargestellte Motiv gewährt der Zeitlichkeit ein gleichsam zeitloses Asyl. Das Foto bleibt ein Abbild, die Zeichnung wird zum Gleichnis. Das eine zeigt ein bestimmtes physisches Konkretum, das andere eine unbestimmte metaphysische Rekonkretion. Das eine stützt das Gedächtnis, das andere bewegt die Vorstellungskraft.

Dass Fragen der Endlichkeit einen Künstler beschäftigen, ist nicht verwunderlich, früher oder später bewegen sie jeden von uns. Ingo Arnold wird in Kürze fünfundachtzig. Sein Schaffen ist in die Phase des hohen Alters eingetreten. Béla Hamvas, der ungarische Gegenspieler zu Georg Lukács, sprach einmal von der Melancholie der Spätwerke, von den Alterslandschaften in Musik, Dichtung, Malerei, diesen beinah leeren Räumen mit wenig Bäumen, wenig Schatten und einer schmerzhaft tiefen Weitsicht. Das Erstaunliche ist, dass Ingo Arnolds Bilder, sobald sie Weltausgang und Lebensende in den Blick nehmen, nicht in der Moll-Tonart verbleiben. Es ist etwas sehr Gefasstes, Klares in ihnen. Vielleicht liegt das daran, dass hier einer am Werk ist, der auf ein erfülltes Leben zurückblickt.
    Was man von den Dingen auf den Bildern nicht immer sagen kann. Nehmen wir nur die „Plastikfolie“, wie sie kalt und steif und einsam auf dem verschneiten Boden liegt, als wäre sie selber obdachlos. Oder die beiden „Mülltonnen“. Sie scheinen leer und stehen wie verloren. Sie warten nicht einmal mehr auf die Müllabfuhr. Zwei Blechsäulen im Nichts, die sich im Wasser spiegeln, in der Regenpfütze eines trüben Tags. Ein eiserner Torflügel begrenzt ihre verfallende Welt. Man denkt an Becketts „Endspiel“.
    Doch nicht in allen Bildern ist das Endspiel trostlos. Besonders nicht in „Ausgang. Übergang“, dem vertikalen Diptychon mit alten Tempelsteinen. Zweimal eine Ansammlung von schweren Quadern, archaischen Blöcken links und rechts übereinander geschichtet, und zweimal ein Ausgang durch die Mitte, der untere noch ein wenig versperrt, der obere schon gänzlich offen. Beide führen sie ins Nirgendwo; luzide weisen sie den Weg heraus aus unsrer Welt. Ohne Hoffnung, ohne Verzweiflung. Der Himmel kaum sichtbar und darum so leicht. Die Erde kaum fühlbar und darum so frei. Ein Doppelbild vom Ende, voller Licht, fast eine Heiterkeit des Todes.
    Und noch einmal anders das Ganze in einem der schönsten, eindinglichsten Bilder der Ausstellung. Es heißt „Ausfahrt, Abschied“ und zeigt sechs in den Seegrund gerammte Holzpfähle, allesamt alt und ausgeblichen, durch Querhölzer und Eisenbolzen miteinander verbunden. Das ausgediente Ensemble war einst eine Vorrichtung zum An- und Ablegen von Ausflugsdampfern, wie häufig auf Berliner Gewässern zu finden. Der Bildraum ist vollständig ausgefüllt von dem rissigen, da und dort splittrigen Holzverbund, nichts ist zu sehen außer ihm und seiner friedlich im Wasser vor sich hin flirrenden Spiegelung.
Das Motiv draußen am Müggelsee mit der Praktika zu fotografieren, hat den Zeichner zwei Minuten, das Bild zu Hause im Atelier auf Karton zu zeichnen, hat ihn siebzig Stunden gekostet. Solange dauert es, einem Ding meditative Aura zu geben. Und die hat dieses Bild.
Doch nicht nur das. Hinzu kommt die Ruhe, die es ausstrahlt. Als begegnete man einem großen fragenden Warten. Was wird kommen? Das Schiff der Ausfahrt oder das Schiff des Abschieds? Wann endet sie, die Zeit? Wann endet es, das Leben? Sie enden, wenn der Tag kommt, an dem Ausfahrt und Abschied eins sind. Sie enden, wenn wir es geschafft haben, bis hierher zu gelangen, bis hin zu dieser lautlos und selbstvergessen im Wasser stehenden hölzernen Sperre. Sie wird uns nicht durchlassen, und was hinter ihr liegt, ist nicht zu erkennen.

Viele der in den letzten beiden Jahrzehnten entstandenen Tafelbilder aus Graphit sind Metaphern des Abschieds. Und zugleich ist ein jedes von ihnen auch eine Geste der Ankunft. Ingo Arnold hat künstlerisch ausgiebig experimentiert - Montagen, Collagen, Lithographien, Plakate -, das Werk ist reichhaltig und vielgestaltig. Und doch kommt es mir vor, als hätte all sein Können und Wollen erst in diesen Zeichnungen ein wahres Zuhause gefunden. Ein Zuhause in der Einfachheit, im Karma des Verzichts. Verzicht nimmt nicht, sondern gibt. Verzichten, sagt Laotse, bedeutet soviel wie ganz bleiben. Und ganz sein heißt ja nichts anderes als heil sein.
Ingo Arnold ist es gelungen, über die Entzweiungen hinauszukommen, auch über die Entzweiungen mit sich selbst. Er ist zurückgekehrt zu dem, womit ein jeder beginnt, zum Bleistift, zur Hand, zum elementaren Ertasten der Welt, zur epischen Geduld langsamen Zeichnens. Er hat sich hingewendet zu den Dingen, wie sie sind, ihrer Verlassenheit, ihrem Schweigen, ihrer Treue, ihrer Zeugenschaft. Er hat die wirklichkeitsgestützte Form und deren inwendige Poesie und Metaphysik zur Darstellung gebracht. Unmittelbar berührend und verständlich für jeden.
Auf diese Weise hat er am Ende sogar die Zeit besiegt. Denn die Zeit, die ein Maler, ein Zeichner in ein Bild investiert, wird dem Betrachter durch das Bild zurückgeschenkt. Auch dem Betrachter, der es geschaffen hat. Was gibt es Schöneres, als Zeit zurückgeschenkt zu bekommen.

                                    [19.2.1016]


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